Unter dem Titel Vom universellen zum vernetzten Intellektuellen. Die Transformation einer politischen Figur im Medienwandel von der Literatur zum Internet habe ich gemeinsam mit dem Kollegen Dirk von Gehlen im September 2009 einen Beitrag für den Band Leitmedien veröffentlicht, in den wir wie folgt einführen:
„Im Februar 2000 erschien im Satiremagazin Titanic unter dem Titel Deutschland, Deine Dichter! eine Bild-Text-Collage, auf der Schwedens König Carl Gustav und Günter Grass, beide im Frack, bei der Überreichung des Literatur-Nobelpreises im Jahre 1999 an Günter Grass abgebildet sind. Sie reichen sich die Hand und verbeugen sich leicht voreinander. Doch während Grass euphorisch ‚Vielen, vielen Dank!‘ sagt, grummelt der schwedische König: ‚Laß endlich los, is´schon Februar.‘
Diese Collage spielt mit der allgemeinen Annahme, dass literarische Intellektuelle noch immer eine öffentliche Bedeutung beanspruchen, deren Zeit schon längst abgelaufen ist.”
Die aktuelle Debatte um Günter Grass‘ Gedicht Was gesagt werden muss ist aus dieser Perspektive wie eine postmortale Inszenierung des ‚universellen Intellektuellen‘ zu verstehen, die allerdings eine erstaunlich große Resonanz erhält. Das Arrangement ist erwartbar: Einflussreiche Medien (zunächst am 4.4.2012 El Paìs, La Repubblica und die Süddeutsche Zeitung) geben einem Denker, der sich auf dem literarischen Feld symbolisches Kapital erworben hat (im Fall Grass u.a. den Nobelpreis als höchste literarische Auszeichnung), die Gelegenheit, sich öffentlich zu einer politischen Frage zu äußern. Dieser nutzt zwar eine literarische Gattung (Lyrik), sein Text weist allerdings weniger literarästhetische Qualitäten als vielmehr die Form der politischen Rede auf.
Schon die Ankündigung des Textes in der Süddeutschen Zeitung scheint sich eher auf eine politische Meinungsäußerung als auf ein lyrisches Werk zu beziehen: „Günter Grass warnt […] vor einem Krieg gegen Iran. In seinem Gedicht […] fordert der Literaturnobelpreisträger deshalb, Israel dürfe keine deutschen U-Boote mehr bekommen.” Folglich kann Christoph Sydow auf Spiegel Online unter dem Titel So falsch liegt Günter Grass das Gedicht in acht politische Thesen ‚übersetzen‘, die „im Faktencheck” auf ihre Richtigkeit hin kontrolliert werden (Ergebnis: drei Thesen sind richtig, zwei falsch, drei unklar bzw. unentscheidbar). Die literarische Form regrediert hier zur weder innovativen noch anspruchsvollen Camouflage einer ‚gewagten‘ politischen Äußerung. Continue reading →