Category Archives: Notizen und Fundstücke

Marcel Reich-Ranicki, Thomas Gottschalk, Helge Schneider und die Debatte um das Fernsehen

Als dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki am 11. Oktober 2008 der Deutsche Fernsehpreis für sein Lebenswerk, zu dem u.a. die Literatursendung Das literarische Quartett gehört, verliehen werden sollte, lehnte er diesen ab mit den Worten:

Ich nehme diesen Preis nicht an (…) und finde es auch schlimm, dass ich hier vier Stunden das erleben musste. Es gibt ja Abende, die man ganz schön erlebt: (…) Man kann im Arte-Programm manchmal sehr schöne, wichtige Sachen sehen. Ich habe auch früher Wichtiges im 3Sat-Programm gesehen. Aber das hat sich jetzt geändert, meist kommen da schwache Sachen. Aber nicht der Blödsinn, den wir hier zu sehen bekommen haben.

Da schauten Sie ziemlich dumm aus der Wäsche, die Betriebsbuchsen Jenny Elvers-Elbertzhagen, Veronika Ferres, Ingolf Lück, Marco Schreyl, Johannes B. Kerner und natürlich der Moderator und Laudator Thomas Gottschalk. Doch sehen Sie selbst:

Als Effekt dieses ‘Eklats’ fand gestern unter dem Titel Aus gegebenem Anlass im ZDF ein Gespräch zwischen Reich-Ranicki und Gottschalk statt, während sich unterdessen alle Feuilletons in verschärfter Kritik der (öffentlich-rechtlichen) Fernsehprogramme geübt haben. Doch inwiefern treten diese Kritikversuche allesamt ins Leere, da sie den Formen des Mediums verhaftet bleiben? Und wie ließe sich eine wirklich Subversion des Mediums inszenieren, die auf überraschende Weise seine Standardisierungen unterliefe und nicht bloß hilflos an verlorene bildungsbürgerliche Ideale appellierte? Ein paar kleine Kommentare zu den Protagonisten Gottschalk, Reich-Ranicki (beide freiwillig), Helge Schneider (unfreiwillig) und dem Medium Fernsehen (superwillig):

Thomas Gottschalk, der neuerdings auch als Beiträger zur Frankfurter Anthologie der FAZ zu reüssieren versucht und am 13. September 2008 Joseph von Eichendorffs Gedicht An Görres in einer Weise besprach, die ohne Änderung in die verhohnepiepelnde Offenbacher Anthologie des Satiremagazins Titanic hätte übernommen werden können, spielte seine Gastgeberrolle ziemlich perfekt und mühte sich erfolgreich, den ausgescherten ‘Chefkritiker’ sobald als möglich wieder in das System zu integrieren: Continue reading

Brüssel in Dänemark am Stachus

München, Karlsplatz (‘Stachus’), Februar 2007

Vielleicht liegt von Deutschland aus gesehen Brüssel tatsächlich in Dänemark, so wie ich mir habe sagen lassen, dass einige US-Amerikaner Belgien für die Hauptstadt von Brüssel halten. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass der globalisierte Kapitalismus sich die Topografien einfach so zurichtet, wie er sie gerne hätte, wenn es denn dem Umsatz dient. Continue reading

How bizarr: Fatboy Slim: “Praise You”

Angeblich hat Director Spike Jonze für die Produktion dieses Videos in Kalifornien nur 800 US-Dollar benötigt. Er selbst agiert unter dem Pseudonym Richard Koufey, auch Fatboy Slim ist am Ende unter den Zuschauern kurz zu sehen. Aber jetzt:

Let tonight´s performance be the best performance we´ve ever had.

Angesichts dieses höchst ironischen Videos könnte man glatt für einen Moment pathetisch werden und denken: Wenn man sich nur traut, die Begrenzungen der Diskurse (oder hier: der Absperrungen) zu überschreiten, ist Großes möglich. Oder nostalgisch und mit Herrn Marx gesprochen: Man müsste mal häufiger

den versteinerten Verhältnissen ihre eigene Melodie vorspielen und sie so zum Tanzen bringen,

und sei es auch nur im Eingangsbereich eines kapitalistischen Kinotempels…

Von der Beliebigkeit eines Namens: Thomas Ernst (VfL Bochum)

In Deutschland gibt es über 80.000 Personen mit dem Nachnamen ‚Ernst’, die vor allem in den Großräumen Berlin, Hamburg, Hannover, NRW, Baden und im Rhein-Neckar-Raum leben. Am häufigsten gibt es ‚Wolfgang Ernst’, ‚Michael Ernst’ und ‚Manfred Ernst’. Der Name ‚Thomas Ernst’ liegt dabei auf Platz zehn aller ‚Ernste’; er ist somit verbreitet genug, dass man ihn als Allerweltsnamen bezeichnen kann. Da das Angebot so groß ist, soll auf dieser Seite jeden Monat einer meiner Namensvetter vorgestellt werden. Den Beginn macht natürlich mein liebster Namensvetter und zugleich der einzige, mit dem ich auch befreundet bin: Thomas Ernst aus Bochum.

Thomas Ernst absolvierte als Fußball-Torwart zwischen 1987 und 2006 insgesamt 5 Europapokal-, 106 Bundesliga- und 46 Zweitligaspiele. Dabei lief er für Eintracht Frankfurt, den VfL Bochum, den VfB Stuttgart und den 1. FC Kaiserslautern auf. Besonders bemerkenswert ist die Episode, dass er am 18. Juni 1995 für den bereits abgestiegenen Zweitligisten FSV Frankfurt in der 63. Minute beim undankbaren Spielstand von 1:6 gegen den FSV Mainz 05 (übrigens mit Jürgen Klopp auf dem Feld) aus Spielermangel als Feldspieler eingewechselt wurde. Unter seiner Mitwirkung fiel dann nur noch ein weiterer Gegentreffer, Glück im Unglück!

In seiner Glanzzeit beim 1. FC Kaiserslautern, wo er auch zum „Spieler der Saison“ gewählt wurde, fiel er durch seine profikickeruntypische dialektische Fabulierfreude auf:

Das war Armut gegen Elend, und Elend hat gewonnen, Continue reading

Lust, Feuchtgebiete und ‘Bitches’

Während sich die Feuilletons und die Boulevardpresse über die “Feuchtgebiete” von Charlotte Roche oder die Selbstinszenierungsstrategien von ‘Lady Bitch Ray’ echauffieren, wird gerne übersehen, dass das offene Schreiben oder Sprechen über Sexualität und Körperflüssigkeiten nun wirklich keine Erfindung des 21. Jahrhunderts ist. Einen jüngeren Klassiker zum Thema, der allerdings im Gegensatz zu Roches Buch und ‘Lady Bitch Rays’ Inszenierungen über eine beeindruckende künstlerische Qualität und eine für den Boulevard inkompatible Form politischer Reflexion verfügt, hat Elfriede Jelinek bereits 1989 mit “Lust” vorgelegt.

Erstaunlich, in welch peinlicher Weise die damaligen und ‘natürlich’ männlichen Chefliteraturkritiker (Reich-Ranicki, Karasek, Busche) gegen die tapfere Sigrid Löffler den Text und seine Autorin denunzieren. Doch sehen Sie selbst:

Mir ist noch nicht klar, welcher Moment der peinlichste ist:

  • Jener, als Jürgen Busche auf Löfflers Satz “Die Sprache ist von Männern besetzt” den Kopf zur Seite wegdreht (Minute 1,13)?
  • Jener, als Hellmuth Karasek im Versuch, differenziert zu argumentieren, mit seiner Frage “Wie unterscheidet sich die Sprache der Jelinek von dieser männlichen Sprache?” doch wieder in die Differenzfalle tritt?
  • Oder jener, als Marcel Reich-Ranicki sagt: “…sie erzählt oft sehr gut. Mich interessiert aber eine ganz andere Frage: (…) Wie funktioniert die Psyche einer Frau, die jeden Morgen für zwei oder drei Stunden sich an den Schreibtisch gesetzt hat, um wieder nur den Dreck zu beschreiben, wie eine Frau gequält wird von ihrem Mann?”

Elfriede Jelinek und die Wursthaut

Und noch einmal Elfriede Jelinek: Die Literatur-Nobelpreisträgerin erklärt in einem Interview, warum Interviews von Schriftstellerinnen eigentlich dumm sind. Alle Kreter lügen, sagt ein Kreter. Schon in den 1990er Jahren war es weit gekommen mit der Literatur angesichts ihrer minorisierten gesellschaftlichen Situation. Ungünstig, wenn diejenigen, die Texte rezensieren, lieber plauschen als lesen. Doch lesen Sie selbst:

Ja, das ist eine vertrackte Sache mit den Interviews. Ursprünglich wollte ich einfach den Leuten wirklich was erklären, damit sie meine Sachen besser verstehen sollen, ganz naiv, mit diesem 68er didaktischen Impetus, den wir damals alle draufhatten. Dann habe ich gemerkt, daß das nicht geht, weil Continue reading

How bizarr: Numminen sings Wittgenstein

Der finnische Sänger und Schriftsteller Mauri Antero Numminen bringt uns das Frühwerk Tractatus logico-philosophicus des österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein in gesungener Weise nahe. Er hat sich dabei gegen den ersten Satz -„Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ (S. 11) – und für den siebten und letzten Satz – „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“ (S. 85) – entschieden:

Mir gefällt übrigens der ‚Satz 5.634’ am besten :

Alles, was wir sehen, könnte auch anders sein. Alles, was wir überhaupt beschreiben können, könnte auch anders sein. Es gibt keine Ordnung der Dinge a priori.

[Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Werkausgabe Band 1. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1993. S. 68]

Deutsche Sprache, schöne Sprache

Wie sagte Flann O´Brien so schön:

Waiting for the German verb is surely the ultimate thrill.

Nicht nur die Postponierung des Verbs in der deutschen Sprache gibt Anlass zu Verzweiflung wie zu schelmischen Spielen. Der Philosoph Theodor W. Adorno mühte sich in seinem Versuch, eine ‚nicht-identische’ Form der Sprache und des Philosophierens zu entwickeln, um die größtmögliche Postponierung des Reflexivums ‚sich’. So zitiert ihn Eckhard Henscheid in einer Anekdote:

Das unpersönliche Reflexivum erweist in der Tat noch zu Zeiten der Ohnmacht wie der Barbarei als Kulmination und integrales Kriterium Kritischer Theorie sich.

Da mal drüber nachdenken. Entschuldigung: Darüber einmal.