Author Archives: Thomas Ernst

About Thomas Ernst

Thomas Ernst is Professor of Modern German Literature at the University of Antwerp. He also works at the University of Amsterdam and holds a venia legendi on Media and Cultural Studies/German Studies at the University of Duisburg-Essen. His research focuses on the construction of identities, images of Germany and Europe, multilinguality and transcultural spaces in Austrian and German literature; on experimental and subversive Austrian and German literatures in the 20th and 21st century; and on the digital transformation of media and its cultural effects (literature and social media; intellectual property rights; digital publishing). His publications include books on “Popliteratur” (2001/2005), “Literatur und Subversion” (2013) and numerous papers that have been published in international magazines and book series with peer-review. At the moment, he is working on a monograph on literature and social media.

Lust, Feuchtgebiete und ‘Bitches’

Während sich die Feuilletons und die Boulevardpresse über die “Feuchtgebiete” von Charlotte Roche oder die Selbstinszenierungsstrategien von ‘Lady Bitch Ray’ echauffieren, wird gerne übersehen, dass das offene Schreiben oder Sprechen über Sexualität und Körperflüssigkeiten nun wirklich keine Erfindung des 21. Jahrhunderts ist. Einen jüngeren Klassiker zum Thema, der allerdings im Gegensatz zu Roches Buch und ‘Lady Bitch Rays’ Inszenierungen über eine beeindruckende künstlerische Qualität und eine für den Boulevard inkompatible Form politischer Reflexion verfügt, hat Elfriede Jelinek bereits 1989 mit “Lust” vorgelegt.

Erstaunlich, in welch peinlicher Weise die damaligen und ‘natürlich’ männlichen Chefliteraturkritiker (Reich-Ranicki, Karasek, Busche) gegen die tapfere Sigrid Löffler den Text und seine Autorin denunzieren. Doch sehen Sie selbst:

Mir ist noch nicht klar, welcher Moment der peinlichste ist:

  • Jener, als Jürgen Busche auf Löfflers Satz “Die Sprache ist von Männern besetzt” den Kopf zur Seite wegdreht (Minute 1,13)?
  • Jener, als Hellmuth Karasek im Versuch, differenziert zu argumentieren, mit seiner Frage “Wie unterscheidet sich die Sprache der Jelinek von dieser männlichen Sprache?” doch wieder in die Differenzfalle tritt?
  • Oder jener, als Marcel Reich-Ranicki sagt: “…sie erzählt oft sehr gut. Mich interessiert aber eine ganz andere Frage: (…) Wie funktioniert die Psyche einer Frau, die jeden Morgen für zwei oder drei Stunden sich an den Schreibtisch gesetzt hat, um wieder nur den Dreck zu beschreiben, wie eine Frau gequält wird von ihrem Mann?”

Elfriede Jelinek und die Wursthaut

Und noch einmal Elfriede Jelinek: Die Literatur-Nobelpreisträgerin erklärt in einem Interview, warum Interviews von Schriftstellerinnen eigentlich dumm sind. Alle Kreter lügen, sagt ein Kreter. Schon in den 1990er Jahren war es weit gekommen mit der Literatur angesichts ihrer minorisierten gesellschaftlichen Situation. Ungünstig, wenn diejenigen, die Texte rezensieren, lieber plauschen als lesen. Doch lesen Sie selbst:

Ja, das ist eine vertrackte Sache mit den Interviews. Ursprünglich wollte ich einfach den Leuten wirklich was erklären, damit sie meine Sachen besser verstehen sollen, ganz naiv, mit diesem 68er didaktischen Impetus, den wir damals alle draufhatten. Dann habe ich gemerkt, daß das nicht geht, weil Continue reading

How bizarr: Numminen sings Wittgenstein

Der finnische Sänger und Schriftsteller Mauri Antero Numminen bringt uns das Frühwerk Tractatus logico-philosophicus des österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein in gesungener Weise nahe. Er hat sich dabei gegen den ersten Satz -„Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ (S. 11) – und für den siebten und letzten Satz – „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“ (S. 85) – entschieden:

Mir gefällt übrigens der ‚Satz 5.634’ am besten :

Alles, was wir sehen, könnte auch anders sein. Alles, was wir überhaupt beschreiben können, könnte auch anders sein. Es gibt keine Ordnung der Dinge a priori.

[Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Werkausgabe Band 1. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1993. S. 68]

Deutsche Sprache, schöne Sprache

Wie sagte Flann O´Brien so schön:

Waiting for the German verb is surely the ultimate thrill.

Nicht nur die Postponierung des Verbs in der deutschen Sprache gibt Anlass zu Verzweiflung wie zu schelmischen Spielen. Der Philosoph Theodor W. Adorno mühte sich in seinem Versuch, eine ‚nicht-identische’ Form der Sprache und des Philosophierens zu entwickeln, um die größtmögliche Postponierung des Reflexivums ‚sich’. So zitiert ihn Eckhard Henscheid in einer Anekdote:

Das unpersönliche Reflexivum erweist in der Tat noch zu Zeiten der Ohnmacht wie der Barbarei als Kulmination und integrales Kriterium Kritischer Theorie sich.

Da mal drüber nachdenken. Entschuldigung: Darüber einmal.

Das Buch: Popliteratur

Das Buch Popliteratur ist inzwischen zu einer Standardeinführung in die deutschsprachige Popliteratur avanciert. Zur ersten Auflage schrieb die Frankfurter Rundschau: „Thomas Ernst bringt die theoretische Domestizierung der Popliteratur auf den Weg.“ Und auch heute noch mag gelten, was der Deutschlandfunk feststellte: „Als Einblick in die Entwicklungsgeschichte der Pop- und Undergroundliteratur ist das Buch sehr gut geeignet.“ Für nur 8,60 Euro erhält man nicht nur eine Definition der Popliteratur, wie jene aus dem Einleitungskapitel: Continue reading

Macht kaputt, was euch kaputt macht?

Es begab sich aber in den 1970er Jahren, dass ein paar junge Vorstreiter über das Thema Pop & Co. Die ‚Andere Musik’ zwischen Protest und Markt im TV diskutierten (darunter u.a. der damals noch notorische Rolf-Ulrich Kaiser). Der Schlagzeuger der Band Ton Steine Scherben, Nikel Pallat, machte dem Bandnamen alle Ehre und setzte den Hit Macht kaputt, was euch kaputt macht in die Tat um. Glücklicherweise war es in diesem Fall nur ein Tisch. Doch sehen Sie selbst:

Nikel Pallat sang übrigens damals, wenn ich mich nicht irre, den Paul Panzer Blues, in dem ‚Paul Panzer’ als Platzhalter für einen idealisierten Proletarier dient. Heute treibt ein anderer ‚Paul Panzer’ als Schwundstufe deutscher Fernsehrebellion in diversen Privatfernseh-Comedy-Programmen sein Unwesen. Wie weit entfernt scheint uns heute ein Satz wie jener Pallats: „Fernsehen ist ein Unterdrückungsinstrument in der Massengesellschaft.“ Nur mal so als homöopathische Dosis Kulturpessismismus. And now for something completely different:

Das Buch: SUBversionen. Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

Vor kurzem ist der Band SUBversionen. Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart beim transcript Verlag erschienen. Eine Rezension des Deutschlandradio Kultur stellt fest, der Band liefere “pointierte Sichtweisen auf das Thema”, seine Beiträge seien “sehr einsichtig” (Sendung Breitband, 5.7.2008). Auf den Seiten des transcript Verlags können Sie inzwischen das Inhaltsverzeichnis des Bandes und eine Textprobe bzw. das Einführungskapitel downloaden und einsehen. Weitere Informationen zum Buch finden Sie auch auf diesen Seiten.

Im Einführungskapitel formulieren die HerausgeberInnen Thomas Ernst, Patricia Gozalbez Cantó, Sebastian Richter, Nadja Sennewald und Julia Tieke das Ziel des Buches wie folgt: Continue reading

Summer School of Creative Writing

Ein Hinweis in eigener Sache:

Die Germanistischen Institute der Universitäten Luxemburg und Trier veranstalten in Kooperation mit dem Künstlerhaus Edenkoben vom 5. bis zum 10. Oktober 2008 zum zweiten Mal eine internationale Summer School of Creative Writing, die diesmal in Köln ausgerichtet wird. Grundidee der Summer School ist es, über mehrere Tage hinweg Studierenden unter professioneller Anleitung die Möglichkeit zu kreativen Schreibprozessen zu bieten. In kleinem Kreis werden schriftstellerische Entwürfe erarbeitet, präsentiert und in nächster Nähe mit etablierten Autorinnen und Autoren diskutiert. Als Dozenten decken Natalie Bloch, Thomas Ernst, Christof Hamann, Anja Hirsch, Karlheinz Ott und Theresia Walser die Bereiche Prosa, Drama, Drehbuch und Kritik ab, die wissenschaftliche Begleitung wird von Prof. Dr. Georg Mein (Luxemburg) und Prof. Dr. Franziska Schößler (Trier) übernommen. Sie können sich noch bis zum 31. August 2008 bewerben. Mehr Informationen finden Sie auf den Seiten der Universität Luxemburg.

Deutsch lernen mit Jean-Marie Pfaff

Im Oktober 1982 sollte es gewesen sein, als Uli Köhler den belgischen Schlussmann des FC Bayern München, nach dem Heimspiel gegen Eintracht Braunschweig, zu dem von ihm gehaltenen Elfmeter befragte. Es ist erstaunlich, wie hartnäckig Köhler nachfragt, wenngleich Pfaff in reinstem Niederländisch antwortet. Aber sehen Sie selbst:

Dieses Video wird übrigens bis heute in Belgien genutzt, um Schülern deutlich zu machen, dass Deutsch gar nicht so schwierig sei. Schön, wenn man in einem deutschen Interview sagen darf:

Zij waren met meer voorspelers dan wij in de eerste helft.

Und Pfaff wurde bei der Wahl zum wichtigsten Belgier immerhin auf Platz 53 gewählt (en voor mijn Nederlandstalige vrienden: Hij belandde ook op nr. 4 in de door het blad Deng georganiseerde verkiezing van de Ergste Belg).

SUBversionen. Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

Jüngst erschien der Sammelband SUBversionen. Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart, der auf einer Tagung basiert, die im Juli 2006 im Künstlerhaus Edenkoben stattfand. Im Vorfeld dieser Tagung gab ich dem freien Radio Z aus Nürnberg ein Interview, das nun zum Download bereitsteht. Darin gibt es auf die Frage, ob heute überhaupt noch wirksame subversive Strategien existieren, die folgende Antwort:

Die Frage ist, über welches Feld man redet und was man überhaupt erreichen will. Wenn man sagt, wir wollen den Kapitalismus abschaffen und Continue reading