Ein offener Brief, der zur schnellstmöglichen Rückkehr zur Präsenzlehre an den Universitäten aufruft, ist jüngst von über 2.000 Professor*innen unterzeichnet worden. Er stellt die “Präsenzlehre” einseitig den “virtuellen Formaten” gegenüber und wertet die digitale Lehre ab. Da mein Eindruck jedoch ist, dass die gute Lehre der Zukunft gerade aus der sinnvollen Verschränkung von digitalen und Präsenzelementen bestehen sollte, habe ich auf Twitter ein Meinungsbild hierzu erstellt. Das Ergebnis: Von denjenigen, die sich unter dem Hashtag #Twittercampus austauschen, wollen im kommenden Semester zur “Präsenzlehre wie früher” nur 6,5 % zurückkehren, während 76,4 % weiterhin an der Onlinelehre festhalten wollen (in verbesserter Form oder mit Präsenzelementen).
Dieses Meinungsbild mag für jene Lehrenden stehen, die sich als Wissenschaftler*innen auch auf Sozialen Medien bewegen und der Online-Lehre offener gegenüber stehen. Die Debatte über die Hochschullehre sollte sich deshalb nicht nur darauf richten, wie man schnellstmöglich wieder zur ‘alten Lehre’ zurückkehren kann. Die Universitäten müssen die Coronaphase unbedingt nutzen, um kurzfristig die Online-Lehre und damit auch langfristig das Blended Learning zu verbessern.
Dazu gehört zunächst eine differenzierte Bestandsaufnahme der Probleme und Potenziale der digitalen Lehre. Der offene Brief schließt jedoch leider nur an mehrere Invektiven gegen die Online-Lehre an. Schon sein erster Satz denkt nur von der analogen #Präsenzlehre aus und weist der Online-Lehre eine Rolle als “Unterstützung” oder “Ergänzung” oder “Alternative” zu. Lehre in einer digitalen Gesellschaft müsste aber als hybrides #Blended Learning gedacht werden.
Im Folgenden bewertet der Brief digitale Lehre einseitig kritisch oder indifferent: Der “digitale Sprung nach vorn” wird nur als “Gefühl” bezeichnet. Ihr “wertvolle[r] Beitrag zur Hochschullehre” wird nicht weiter konkretisiert bzw. in den Punkten 1.-3. doch als minderwertig eingeschätzt. Es müsste jedoch darum gehen, die Erfahrungen im Coronasemester erst einmal offen zu reflektieren. Wie eine solche kritische & konstruktive Selbstreflexion aussehen könnte, haben wir auf dem Portal „Digitale Lehre Germanistik“ formuliert.
Schließlich stellt der Brief den sozialen Präsenzraum an der Universität und das “Gespräch zwischen Anwesenden” einerseits den “virtuellen Formaten” andererseits dichotomisch gegenüber. Gutes Blended Learning jedoch verschränkt die beiden Räume sinnvoll und stellt keine Hierarchie auf.
Und nicht nur die Präsenzlehre muss geschützt werden. Gelungenes Blended Learning benötigt sogar mehr Personal, mehr Zeit, mehr Technik, wie wir gerade lernen, also: mehr Geld: “Wer digitale Lehre als Sparmöglichkeit betrachtet, ist asozial.”
Fazit: Wichtiger als eine “Verteidigung der #Präsenzlehre” (= Bewahrung des Alten) erscheint mir (und für das kommende Semester auch über 90% auf dem Twittercampus): “Wo Coronasemester war, soll gutes #Blended Learning werden” (= aus den Experimenten der Gegenwart in Verbindung mit dem Alten eine bessere Zukunft entwickeln).