Nun sagt, wie halten wir es zukünftig mit der digitalen Lehre? Diese neue Gretchenfrage der Hochschullehre stellt sich in neuer Form, denn der aktuelle Forschungsstand zur Covid-19-Pandemie lässt Präsenzunterricht vorerst wenig ratsam erscheinen. Die ersten Universitäten wie die University of Cambridge deklarieren folglich bereits das komplette Studienjahr 2020/21 zum Online-Lehrjahr. Gegen diese nahe liegende Entwicklung polemisieren nun konservative Medien: Thomas Thiel behauptet jüngst in der FAZ, dass „das digitale Einheitsprodukt billiger ist als das physische Seminar vor Ort“ und letztlich nur Medienkonzernen wie Bertelsmann und Microsoft diene; Susanne Gaschke proklamiert in der Welt gar „das Ende der Universität, wie wir sie kannten“. Auch eine linke Aktivistin wie Naomi Klein problematisiert den Digitalunterricht als Teil einer „High-Tech Dystopia“, die sie in The Intercept als Teil des „Screen New Deal“ diffamiert.
Es ist weise, diese sozialen und ökonomischen Gefahren im Blick zu behalten. Zur Weisheit gehört jedoch auch, diese Thesen mit konkreten Erfahrungen in der Hochschullehre abzugleichen. Es gibt bereits entsprechende Threads zu den Artikeln von Thiel und Gaschke, in denen Kolleg*innen diese Meinungsbeiträge als „antiakademische Polemik“ in Kombination mit „Technikfeindlichkeit“ (@miriamzeh) bzw. „Unfassbarer Schmarrn“ (@ArminNassehi) und „quasi argumentfrei“ (@drbieber) bewerten. Im Gegensatz dazu müssten auch die positiven Erfahrungen berücksichtigt werden, denn: „Wir werden das Gute aus der Online-Lehre behalten, und damit die Präsenzlehre aufwerten.“ (@nettwerkerin)
Da bei uns in Belgien das Sommersemester früher liegt als in Deutschland (von Februar bis Mai), erwischte uns die Umstellung auf reinen Online-Unterricht mitten im laufenden Semester. Das war im März eine enorme Herausforderung, ermöglicht mir nun jedoch, bereits anderthalb Monate vor den Kolleg*innen aus Deutschland ein vorläufiges Fazit dieser digitalen Lernerfahrungen und vor allem Empfehlungen für 2020/21 zu formulieren. Damit komme ich zugleich einem selbst gesetzten Anspruch nach: Beim spontanen Aufbau unseres Fachportals „Digitale Lehre Germanistik“ entstand gemeinsam mit Prof. Dr. Andrea Geier (Trier), Prof. Dr. Kai Bremer (Osnabrück), Prof. Dr. Thorsten Ries (Gent/Regensburg) und PD Dr. Claudius Sittig (Rostock) das Arbeitspapier „Vorschläge für eine konstruktive Selbstreflexion“. Das Ziel sollte sein, unsere Erfahrungen mit der Umstellung auf digitale Lehre während der COVID-19-Pandemie kritisch zu reflektieren, um daraus für die Zukunft zu lernen.
Meine Empfehlungen bemühen sich daher, hinter die Schwarz-Weiß-Rhetorik der genannten Meinungsartikel zu blicken, und gehen von den bisherigen Evaluationen meiner Studierenden an der Universiteit Antwerpen aus. In diesem Semester habe ich vier BA- und MA-Gruppen unterrichtet, von denen mir durchschnittlich etwa zehn Studierende aus Seminaren zu den Themen „Deutsche Literaturgeschichte“, „Deutsche Kulturgeschichte“ und „Literatur und Politik“ ihre Erfahrungen mit dem digitalen Unterricht beschrieben haben. Bei uns wird die Lernplattform Blackboard genutzt, die verschiedene Funktionalitäten für die Online-Lehre anbietet (Live-Unterricht, Aufnahme von Videos, Einrichtung von Wikis und Foren etc.). Je nach Seminar habe ich von diesen Optionen unterschiedlichen Gebrauch gemacht, in der Gesamtheit mögen die Rückmeldungen jedoch als ein gutes (frühes) Fallbeispiel zählen können.
Probleme mit der Online-Lehre
Es gab von den Studierenden 26 kritische Anmerkungen, davon bezogen sich 42% auf technische Schwierigkeiten (vor allem schlechte Internetverbindungen). Alle weiteren Anmerkungen zielten auf generelle Probleme der Studierenden mit der Online-Lehre: Einige Studierende gaben an, dass sie generell mit der Online-Lehre fremdeln (19% aller kritischen Anmerkungen); viele konstatierten, dass das lange Betrachten des Bildschirms zu Konzentrationsschwierigkeiten und Ermüdung führten und z.B. dreistündige Seminare deutlich zu lang seien (31%); einzelne stellten fest, dass der Online-Unterricht sie mehr Zeit gekostet und unter einen größeren Druck gesetzt habe (8%).
Potenziale der Online-Lehre
Die Studierenden machten insgesamt 35 positive Angaben, von denen sich ein Viertel darauf bezogen, dass die Umstellung vom Präsenzunterricht auf die Online-Lehre gut erläutert worden sei und problemlos funktioniert habe (26%). Der Großteil der positiven Anmerkungen bezieht sich auf das Verhältnis und die Potenziale der synchronen und der asynchronen Lehrmomente: Es wird hervorgehoben, dass der Live-Unterricht gut funktioniert habe, da er in einer anderen Form Interaktivität ermöglicht und genügend Raum für Fragen eröffnet habe (23%); zudem hätten die Live-Momente die Intensität des Lernens erhöht und eine zeitlich geordnete Lernstruktur geschaffen, was in dieser Corona-Zeit wichtig und hilfreich gewesen sei (11%). Daneben sei es gut gewesen, dass Video-Aufnahmen der Live-Sitzungen gemacht (17%) und dass die zusätzlichen Lern- und Interaktionsangebote wie das Wiki, Breakout-Rooms oder separate Lernvideos angeboten und genutzt worden seien (11%). Schließlich werden auch persönliche Vorteile angesprochen: Die Nachfragen nach der persönlichen Situation seien besonders hilfreich gewesen; man habe viel Zeit gespart, weil die Anfahrt zur Uni nicht nötig war; ein*e Student*in habe sich sogar besser konzentrieren können als im Präsenzunterricht (11%).
Aus diesen Rückmeldungen und meinen eigenen Erfahrungen mit dem reinen Online-Unterricht lassen sich eine Reihe von Empfehlungen ableiten. Diese betreffen Politik, Universitäten und die Lehrenden in unterschiedlicher Form.
Empfehlungen und Herausforderungen für Politik und Universitäten
- Frühzeitige Festlegung auf Online- oder Präsenz-Lehre ist fundamental: Der Erfolg von Online-Lehrveranstaltungen hängt von einer klugen und frühzeitigen Differenzierung der Lerninhalte, Lernziele und Prüfungsformen in asynchrone und synchrone Lehrmomente sowie von der zielgerichteten Nutzung unterschiedlicher Tools ab. Um diese Differenzierung sinnvoll planen zu können, ist eine frühzeitige Festlegung auf die Online- oder die Präsenz-Lehre (unter Nutzung digitaler Lernmomente) unabdingbar, die dann für die Dauer des Seminars durchgezogen werden sollte.
- Internet-Bandbreite und Stabilisierung der Lern-Plattformen: Das größte Problem der Online-Lehre ist auch 2020 noch immer, dass die Internet-Bandbreite und die Stabilität der Lern-Plattformen weder im Alltagsgebrauch noch unter Nutzung der aufwendigeren Tools ausreichend ist. Das muss endlich und so schnell wie möglich geändert werden. Das World Wide Web ist kein Neuland mehr, seine Straßen und Marktplätze aber sind noch immer nicht befestigt.
Herausforderungen für die Universitäten
- Nutzung einer zentralen Lernplattform, die Datensouveränität gewährleistet: Studierende und Lehrende klagen durch die Online-Lehre über erhöhten Stress, Zeitaufwand und Konzentrationsschwierigkeiten. Ein zentrales Mittel, um diesen Stress zu reduzieren, ist die Nutzung einer zentralen digitalen Lernplattform (wie Moodle, Blackboard, Canvas) an der Universität, die a) zahlreiche Funktionalitäten in sich vereint sowie b) die Datensouveränität ihrer Nutzer*innen gewährleistet. Es ist wichtig, dass die Universität hierfür ausreichende Mittel sowie auf die Notwendigkeiten der verschiedenen Disziplinen abgestimmte Fortbildungsmöglichkeiten anbietet.
- Studierende aus bildungsfernen Hintergründen besonders unterstützen: Die Umstellung auf eine reine Online-Lehre führt zu einer strukturellen Benachteiligung von Studierenden aus bildungsfernen Hintergründen oder schwierigen familiären Umgebungen. Darum ist wichtig, a) zu Beginn der Umstellung/Lehrveranstaltung etwaige Beeinträchtigungen mit Studierenden zu erörtern (ökonomische/soziale/räumliche/technische/familiäre Situation) sowie b) Dienste und Mittel an der Universität einzurichten, die eine entsprechende Unterstützung, individuelle Begleitung oder Ausnahmeregelungen für diese Studierenden gewährleisten können.
Herausforderungen und Empfehlungen für Lehrende
- Zusätzliche Anforderung: Erläuterung der Tools und Techniken: Zu Beginn der Seminare ist es fundamental wichtig, den Studierenden das digitale Lehrkonzept und ggf. auch die genutzten Tools ausführlich zu erläutern. Gerade für Studierende mit einer schlechten technischen Ausstattung oder einer geringen Affinität zum digitalen Lernen ist diese Phase fundamental. Sie kostet zwangsläufig zusätzliche Zeit und Energie.
- Zusätzliche Anforderung: Studierendenbetreuung: Während man sich in einem Seminarraum schnell einen Überblick über die Präsenz, Motivation und Teilhabe der Studierenden verschaffen kann, muss hierfür beim Online-Unterricht zusätzliche Zeit und Energie der Dozierenden eingeplant werden. Während in der Präsenzlehre die einzelnen Sitzungen vor allem für die Präsentation und Diskussion der Seminarinhalte genutzt werden, verschieben sich die Verhältnisse zwischen Präsenzlehre, Gruppensprechstunde und Einzelsprechstunde (synchrone Lehre) sowie der Präsentation von Lehrvideos, der Durchführung von Gruppenarbeiten und dem individuellen Feedback dazu (asynchrone Lehre). Insgesamt ist das zeitlich für die Studierenden und die Lehrenden ein deutlich höherer Aufwand.
- Erhöhter Zeitaufwand und reduzierte Lerninhalte: Dieser zeitlich höhere Aufwand sollte bei der Berechnung der Lehrkapazitäten und der Leistungen der Studierenden berücksichtigt werden. ‚Weniger ist mehr‘ ist im #Coronasemester zu einem oft genutzten Schlagwort geworden. Ggf. können die Erfahrungen mit der Online-Lehre helfen, in diesem Sinne auch die Lerninhalte und Lernziele zu modifizieren. Auch dieser Prozess benötigt allerdings zusätzliche zeitliche Ressourcen, wenn er sinnvoll gestaltet werden will.
- Zielgerichtete Auslagerung einzelner Lerninhalte: Die Erfahrungen mit der Online-Lehre haben gezeigt, wie wichtig der direkte Austausch mit den Studierenden für den Lernerfolg ist und dass nur ein kleiner Teil der Lerninhalte ohne direkte Betreuung (z.B. im Sinne von MOOCs) ausgelagert werden könnte. Allerdings kann es helfen, immer wiederkehrende Fragen, die nicht zum direkten Seminarinhalt gehören (Wie schreibe ich eine Hausarbeit? Wie halte ich ein Referat? Wie recherchiere ich in der Bibliothek? Wie zitiere ich korrekt?) in kurzen Lernvideos zu erläutern und standardisiert verfügbar zu machen. Das spart wiederum Lehrzeit, die an anderen Stellen dringend benötigt wird.
- Verhältnis von synchronen und asynchronen Lehrmomenten optimieren: Die Studierenden erleben in dieser Zeit sowohl den digitalen Live-Unterricht als auch zusätzlich bereitgestellte Videos und Materialien als hilfreich. Es ist allerdings eine große Herausforderung für die Lehrenden, je nach Gruppe, Lernzielen und Lerninhalten das Verhältnis der synchronen und der asynchronen Lehrmomente zu optimieren. Die politische Vorstellung, dass erfolgreiche Lernprozesse auch in vor allem asynchron verlaufenden (und auf Dauer kostengünstigeren) Digitalseminaren stattfinden könnten, ist mir nach diesem #Coronasemester noch fremder als zuvor schon.
- Neue Formen der Interaktivität nutzen (synchron und asynchron): Die Arbeitsverhältnisse der digitalen Netzwerkgesellschaft erfordern andere kommunikative Kompetenzen und Partizipationsweisen. Der Digitalunterricht hält zu deren Einübung viele Optionen bereit, denn sowohl synchron (Unterrichtsgespräch im Live-Room; Gruppengespräch im Break-Out-Room) als auch asynchron (kollaborative Plattformen wie Wikis oder Annotationen) können unterschiedliche Formen der Interaktivität und Teamarbeit stimuliert werden. Das ist eine sehr konkrete Herausforderung, kann jedoch gelingen, wie Prof. Dr. Konstanze Marx einfühlsam beschreibt.
- Seminarlängen, -rhythmen und -inhalte umgestalten: Die Online-Lehrerfahrung hat mir noch einmal gezeigt, wie künstlich es ist, Seminar immer ein- bzw. zweimal wöchentlich für jeweils 90/120/180 Minuten anzubieten. Besonders gelungene Sitzungen ließen sich in Abschnitte von ca. 35 Minuten einteilen (das war durch die Videoaufnahmen nachträglich leicht zu rekonstruieren); manchmal benötigten die Studierenden längere Lektüre- oder Gruppenarbeitsphasen zwischen den Live-Sitzungen. Sollte ich im Studienjahr 2020-21 erneut digital lehren müssen, werde ich auf jeden Fall von den tradierten Rhythmen abweichen und – orientiert an den Lerninhalten und Lernzielen – einen wesentlich flexibleren Verlaufsplan wählen, der synchrone und asynchrone Elemente verbindet. Die Live-Unterrichtszeit, die dann eingespart wird, muss ohnehin in zusätzliche Sprechstundenzeit umgewandelt werden, die der Betreuung einzelner Studierender oder spezifischer Arbeitsgruppen dient.
Bildungspolitische Implikationen für die Online-Lehre in den Geisteswissenschaften
Was in der Hochschullehre gerade passiert, geht weit über „Zoom-Konferenzen“ (Gaschke) oder „Onlinekurse Moocs“ (Thiel) hinaus. Vieltausendfach entdecken Lehrende und Studierende gemeinsam sowohl die Probleme wie auch die Potenziale digitaler Lernformen. Und natürlich könnten wir auch 2020-21 diese Form der Digitallehre fortsetzen, ohne dass eine Katastrophe entstünde.
Wichtiger erscheint jedoch, dass wir aus den Erfahrungen des aktuellen #Nichtsemesters, das sich in dieser Form weder Digitalenthusiast*innen noch Digitalisierungskritiker*innen gewünscht haben, in eine differenzierte Debatte eintreten. Dabei wäre zu klären, wie wir uns eine produktive Verbindung von Präsenz- und Digitallehre vorstellen können, die unter dem Titel ‚Blended Learning‘ bereits seit den späten 1990er Jahren existiert. Klar erscheint mir das Folgende:
- Es wäre politisch asozial, den Digitalunterricht als eine perspektivische Sparmöglichkeit zu bewerten und aus diesem Grunde zu fördern. Im Gegenteil: Die digitale Lehre benötigt mehr Lehrzeit, mehr Betreuung und mehr Technik. Um die Potenziale des Digitalunterrichts wirklich nutzen zu können und die Verhärtung sozialer Differenzen, die er befördert, aufzuweichen, müsste mehr Geld in das Bildungssystem fließen.
- Für die freie und selbstbestimmte Bildung ist es in der Tat eine Katastrophe, dass sich Internet-Unternehmen mit Monopolstellung vehement in die digitale Bildung einschalten. Wichtige Standards wie Datenschutz, Datensouveränität, Open Source und Open Access spielen noch immer eine zu geringe Rolle in der Debatte um die digitale Hochschullehre. Warum wurde der Aufruf für eine stärkere digitale Zivilgesellschaft jüngst von so wenigen Wissenschaftsorganisationen unterzeichnet? Warum muss ein Player wie der Chaos Computer Club zeigen, wie digitale Lehre besser geht? Wir müssen noch viel mehr digitale Aufklärung wagen!
- Jenseits der Schwarz-Weiß-Rhetoriken von Präsenz- vs. Online-Unterricht benötigen wir endlich eine umfassende Debatte über die notwendigen Standards des ‚Blended Learning‘ in den unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Eine gute Debatte muss die ökonomischen, sozialen, didaktischen, medialen, (datenschutz-)rechtlichen und fachspezifischen Implikationen des Blended Learning berücksichtigen: Wie können sich die Potenziale der Online-Lehre und die Elemente des Präsenzunterrichts produktiv verbinden?
- Dazu werden wir hoffentlich viel stärker bereits vorhandene Portale zur Online-Didaktik und Best Practices ausbauen und als Orientierung nutzen können. Für mein Fach lädt das Portal „Digitale Lehre Germanistik“ weiterhin zur Mitarbeit ein, die mediendidaktischen Vlogs von Philipp Wampfler zum #DigiFernunterricht und die Beiträge Axel Krommers (@mediendidaktik) haben sich als besonders anregend erwiesen. Das Projekt @D3_Projekt mit Dr. Gunhild Berg (@LiteraturDida) erprobt, in welche Richtung die weiteren Entwicklungen gehen können. Auf dem #Twittercampus und an vielen anderen Orten werden wir weiter diskutieren.
Persönlich habe ich das Coronasemester unter den aktuellen Bedingungen zwar als besonders ermüdend erfahren. Zugleich erlebe ich die positiven persönlichen Rückmeldungen der Studierenden jedoch als sehr motivierend. Für mich steht daher fest: Wo #Coronasemester war, soll nach der Pandemie gutes #BlendedLearning werden.