„Historic man may turn out to have been literate man. An episode.“ Marshall McLuhan, 1953
Die Potenziale der digitalen Medien für das geisteswissenschaftliche Arbeiten werden immer stärker genutzt und reflektiert. Ein guter Beleg für diese Veränderungen ist der Verband Digital Humanities im deutschsprachigen Raum (DHd), der erst 2013 als Regionalverband der European Association of Digital Humanities (EADH) gegründet wurde, zu dessen erstem Kongress an der Universität Passau im März 2014 aber bereits 350 BesucherInnen kamen, die sich in einem spannenden Programm mit zwei Keynotes, zwei Kontrovers-Diskussionen, sechs Preconference-Workshops, 44 Vorträgen und 47 Posterpräsentationen über den Stand der Digital Humanities austauschten.
Mich interessiert in diesem Zusammenhang vor allem die Frage, welche neuen Formen der digitalen Produktion und weiteren Bearbeitung wissenschaftlicher Erkenntnisse sich entwickeln und welche Effekte die veränderte Form und Verfügbarkeit des wissenschaftlichen Wissens auf das (Selbst-)Bild der Wissenschaft hat. In meinem Vortrag Jenseits des wissenschaftlichen Werks und des geistigen Eigentums? Die digitale Verbreitung wissenschaftlichen Wissens, der hiermit auch als Audiodatei nachhörbar wird (Länge: 22:20 Min.), habe ich daher gefragt, inwiefern sich das uns bekannte geisteswissenschaftliche Subjekt, das sich an „Veröffentlichungspraxen, die sich auf das Medium Buch beziehen“, herausgebildet hat, in einer digitalen Welt ändert. Insbesondere interessiert dabei der Übergang von einer wissenschaftlichen Veröffentlichungskultur, die Werke als abgeschlossene, abgrenzbare und auf die Schöpfung durch (im Regelfall) ein individuelles Schöpfersubjekt rückführbare Entitäten versteht, zu neuen Formen, die mit diesen Verfahren brechen. Der Vortrag nimmt eine medientheoretische und -historische Perspektive ein und argumentiert u.a. mit Michel Foucault, Marshall McLuhan und Vilém Flusser.
Aktuell lassen sich fünf Formen der digitalen wissenschaftlichen Kommunikation (10:35-11:54) unterscheiden, von denen sich wiederum drei Formen konstitutiv von den Grundannahmen des gedruckten wissenschaftlichen Publizierens abwenden, indem sie in unterschiedlicher Weise als ein offener, interaktiver und teilweise auch kollaborativer Prozess angelegt sind (ab 12:55): das sind Wissenschaftsblogs, Social Media wie Twitter und Wikis wie Guttenplag oder Vroniplag. Dabei lassen sich insbesondere diese letztgenannten Plagiatsplattformen, die u.a. aufgrund der (tendenziellen) Anonymität ihrer MitarbeiterInnen sehr umstritten sind, als ein gutes Beispiel für die Potenziale digitaler Medien für die wissenschaftliche Kommunikation bezeichnen (15:04-16:43).
Diese neuen Formen werfen jedoch zugleich etliche Probleme auf, die uns in den nächsten Jahren beschäftigen werden (ab 18:43): Erstens ist noch kaum erfasst, welche Folgen der veränderte mediale Status der Schrift für das wissenschaftliche Subjekt haben kann, die das Mottozitat von McLuhan bereits andeutet; zweitens können diese medialen Veränderungen weitreichende Konsequenzen für das Urheberrecht haben, die bislang aber kaum umgesetzt worden sind; drittens müssen Kategorien der Wissenschaftlichkeit für die diversen Formen der digitalen wissenschaftlichen Kommunikation noch weitaus intensiver diskutiert werden; viertens wäre, wenn man das Internet als einen zutiefst multilingualen Raum ernst nimmt, noch stärker über die anderssprachige Veröffentlichung der eigenen Texte nachzudenken.
Diese vier Thesen beziehen sich in Teilen auf die Thesen Digital Humanities 2020, die der DHd-Verband zum Kongress vorgelegt hat und die als Ausgangsbasis für weitere Gespräche in diversen Arbeitsgruppen dienen sollen. Hier interessiert vor allem der Punkt 3.3. Die Digital Humanities und Publikationskulturen der Geisteswissenschaft, von dem die AG Digitales Publizieren ausgegangen ist.
Doch diese wichtigen Fragen sind nur ein kleiner Teil dessen, was in Passau präsentiert und diskutiert worden ist. Gerade für Einsteiger in die Digital Humanities eignen sich die Videoaufzeichnungen der Keynote-Vorträge und der Kontrovers-Diskussionen, die online abrufbar sind: Prof. Dr. John Nerbonne (Universität Groningen, Präsident der European Association for Digital Humanities) hat den Eröffnungsvortrag zum Thema Die Informatik als Geisteswissenschaft gehalten, Prof. Dr. Katja Kwastek (Freie Universität Amsterdam) sprach zum Thema Vom Bild zum Bild: Digital Humanities jenseits des Texts. In den beiden (nur bedingt kontroversen, aber interessanten) Kontroversdiskussionen sprachen Prof. Dr. Gerhard Heyer (Leipzig) vs. Prof. Dr. Manfred Thaller (Köln) zum Thema Grenzen und Gemeinsamkeiten: Die Beziehung zwischen der Computerlinguistik und den Digital Humanities sowie Dr. Achim Bonte (Dresden) vs. Dr. Thomas Stäcker (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel) zum Thema Infrastruktur für Digital Humanities, aber richtig (die Länge der Videos ist jeweils 40-60 Minuten). Weitere Präsentationen des Kongresses können auf einer eigenen Seite abgerufen werden.
Die nächste DHd-Tagung wird im Februar 2015 an der Universität Graz stattfinden und steht unter dem Titel Von Daten zu Erkenntnissen: Digitale Geisteswissenschaften als Mittler zwischen Information und Interpretation, der Call for Papers steht auf der Konferenzseite zur Verfügung.
[Dieser Beiträg wurde am 7. September 2014 erstveröffentlicht auf dem Weblog Digitur – Literatur in der digitalen Welt; der Aufsatz zum Vortrag ist derzeit in Arbeit.]