„Wikipedia is nix?“ Digitales Wissen in der Wissenschaft. Ergänzende Anmerkungen zu einem Interview für DRadioWissen

Inwiefern darf man aus digitalen Medien wie der Wikipedia in wissenschaftlichen Arbeiten zitieren? Welchen Status haben digitale Medien in der Wissenschaft überhaupt? Zu diesen aktuellen Fragen habe ich vor kurzem Andrea Heinze in der Sendung „Mein Studium” von DRadioWissen (Ergänzung vom 21.2.2014: Nach dem Relaunch von DRadio Wissen ist die Seite zur Sendung leider nicht mehr verfügbar, Sie können das Interview aber an anderer Quelle anhören) ein achteinhalbminütiges Interview gegeben (ein großer Luxus, dass sich Radiosender heute noch eine solche Interviewlänge erlauben, danke dafür!). Da einerseits das Format des Telefoninterviews auf Prägnanz angewiesen ist und ich andererseits den noch immer sehr starken ‚internetkritischen‘ Diskursen in den meisten Qualitätsmedien ein paar deutliche Thesen entgegen stellen wollte, nutze ich dieses Blogposting, um meine Interview-Aussagen zu ergänzen und zu differenzieren.

Richtig zitieren aus Buch- und Internetquellen: Medienkompetenz ist der Schlüssel

Zunächst möchte ich noch einmal kurz meine Kernthesen aus dem Interview wiederholen: Beim Verfassen wissenschaftlicher (Haus-)Arbeiten steht die Medienkompetenz zentral, sehr verschiedene Quellen zu einem jeweiligen Themenfeld recherchieren, bewerten, auswählen und ggf. sinnvoll zitieren zu können. Dies war schon in der sog. ‚Gutenberg-Galaxis‘ so, in der mit hochwertigen wissenschaftlichen Reihen einerseits und subjektiven Meinungsäußerungen oder im Selbstverlag herausgegebenen Büchern andererseits sehr verschiedene Pole zitabler Texte existierten. In digitalen Medien finden wir nun erstens zahllose digitalisierte Texte der ‚Gutenberg-Galaxis‘, zweitens jedoch spezifische Texturen, die so nur im World Wide Web entstehen können, wie beispielsweise interaktive Postings in Weblogs oder die Beiträge einer kollaborativ geschriebenen freien Enzyklopädie wie der Wikipedia. Grundsätzlich handelt es sich daher bei der Bewertung von papiernen oder digitalen Quellen für die wissenschaftliche Textproduktion um, so meine Formulierung im Interview, „eine mediale Verschiebung eines Problems, das Sie auch früher schon hatten.”

Die simplifizierende binäre Schematisierung ‚hochwertige Papierquellen‘ vs. ‚minderwertige Onlinequellen‘ muss also differenziert werden. Um nur ein beliebiges Beispiel zu nennen: Es ist bereits mehrfach gezeigt worden, dass die Einträge von noch immer als wissenschaftlich hochwertig und ‚objektiv‘ bewerteten Lexika und Enzyklopädien beispielsweise zu einem Begriff wie „Zigeuner” in hohem Maße ideologisiert und stigmatisierend gestaltet worden sind [siehe Fußnote 1]. Im Gegensatz dazu ermöglicht beispielsweise die Wikipedia eine hilfreiche  Transparenz, sie markiert politisch umstrittenes Wissen, wenn um Passagen in Beiträgen anhaltend gerungen wird, denn „[w]ir haben so etwas wie eine Versions-/Verlaufsgeschichte, ich kann also bei jedem Artikel – anders als früher beim Brockhaus – in die Entstehungsgeschichte hineinschauen: Wie viele Menschen aus der Community haben eigentlich daran mitgearbeitet? An welcher Stelle im Text gab es wann Veränderungen? Welche Teile des Textes stehen schon länger online, sind also […] ‚sakrosankt‘ innerhalb der Community? Dieser Blick hinter die Kulissen der Textproduktion” kann Studierenden bei der Bewertung der Quellenqualität helfen. Redakteurin und Interviewerin Andrea Heinze fasste somit meine Position wie folgt zusammen: „Wikipedia nutzen für Seminararbeiten ist unter Umständen in Ordnung.”

Digitales Wissen in der Wissenschaft: Von Potenzialen und Problemen

Nun wäre es aber wichtig, und hiermit bewegen wir uns jenseits des optimistischen Interviews, diese Umstände näher zu bestimmen. Daher werde ich mich nun ein wenig mit den praktischen Umständen beschäftigen, unter denen Studierende darüber nachdenken, Wikipedia als wissenschaftliche Quelle zu zitieren. Hier erscheinen mir vier Probleme wichtig:

1. Die digitale Verbreitung und Präsenz textlichen Wissens in Verbindung mit einer intensiven Internetnutzung im Alltag hat zu einer größeren Bequemlichkeit der Studierenden bei der Literaturrecherche geführt. Ärgerlicherweise erhält man – trotz aller gegenteiligen Hinweise – gerade von StudienanfängerInnen erste Hausarbeiten, in denen das Literaturverzeichnis primär aus schwachen Internetquellen besteht. Erfreulich ist das nicht.

2. Die aktuelle Studierendengeneration hat in der Schule noch im Regelfall vor allem mit gedruckten Texten gearbeitet und in gedruckten Büchern, Papierkopien oder Ausdrucken Markierungen vorgenommen. Das führt zur widersprüchlichen Situation, dass den Studierenden zwar einerseits immer mehr (digitales) Wissen zur Verfügung steht, dieses im konkreten Lektüreprozess jedoch meist nicht ausreichend durchdrungen wird, weil sich die Studierenden im Regelfall noch an Verfahren der Textmarkierung und -kommentierung in digitalen Medien gewöhnen müssen. Dieses Problem werden spätere Generationen nicht mehr haben, stört aber aktuell die konkrete Arbeit.

3. In der Wissenschaft wird aktuell noch um die Wertigkeit digitaler Veröffentlichungen gerungen, zumal (in den Geisteswissenschaften) die hochwertigen wissenschaftlichen Reihen und Magazine noch vor allem in der gedruckten Textwelt beheimatet sind (wobei auch diese nahezu komplett aus digitalen Vorlagen erzeugt wird). Zudem müssen die Wissenschaften (vor allem die Geisteswissenschaften) erst noch lernen, mit den nummerischen Bewertungsverfahren, kollektiven Autorschaften und der Versionierung von Texten in digitalen Medien (die es allesamt auch schon im Papierzeitalter gab, aber nicht in dieser Intensität und Bedeutung) angemessen umzugehen, da diese Verfahren der Wissensproduktion mit vielen Grundannahmen des wissenschaftlichen Publizierens in der ‚Gutenberg-Galaxis‘ brechen (klar benennbare Urheberschaft von Texten; eine eingeschränkte Versionierung von Texten; geheime und anonymisierte Begutachtungssysteme; Textpublikation erst nach Fertigstellung des gesamten Projekts etc.).

4. Die spezifische Frage nach der Wertigkeit der Wikipedia als wissenschaftliche Quelle ist eigentlich schwierig zu beantworten, da in wissenschaftlichen Arbeiten üblicherweise Primär- und Forschungsliteratur, jedoch nur vereinzelt Enzyklopädien und Handbücher zitiert werden, die – wenn überhaupt – für die recherchierende Annäherung an ein Themenfeld genutzt werden. Das führt mitunter zu der studentischen Fehleinschätzung, ein Referat, das in weiten Teilen einen Wikipedia-Beitrag zitiert, sei ein angemessener wissenschaftlicher Beitrag, wo es sich doch nur um eine unangemessene (und womöglich auch noch unwissenschaftliche) Form eines Plagiats handelt – ein Wiki-Eintrag kann immer nur ein Element eines viel größeren Feldes recherchierter Texte sein, wenn er denn überhaupt qualitativ ausreichend ist (diese Einschätzung gilt allerdings in ähnlicher Form für die Nutzung des Brockhaus als Quelle wissenschaftlicher Forschung).

5. Mit der Wikipedia hat sich im World Wide Web eine kollektiv produzierte Wissensplattform etabliert, die voraussichtlich auf Dauer noch hochwertiger wird. Momentan muss man leider an vielen Stellen noch vorsichtig sein: Mein eigener Eintrag in der Wikipedia enthält noch zwei sachliche Fehler und ob ich als „Schriftsteller” am besten rubriziert bin, darüber kann man auch streiten. Ich bin allerdings sehr glücklich, dass die Community mich bereits rubriziert hat – von manchen Kollegen weiß ich, dass sie aus ihrem Umfeld ihre Beiträge haben verfassen lassen, um anschließend die Wikipedia als minderwertige Wissensplattform zu bewerten. Es gibt also weiterhin viel Arbeit im Bereich ‚Qualitätssicherung‘ der Wikipedia zu leisten – wir werden sehen, ob die Community das hinbekommt.

6. Sehr berechtigt sind in den letzten Jahren einige prominente Promotions-Plagiatsfälle entlarvt worden. Kollaborative Rechercheplattformen wie GuttenPlag oder VroniPlag mit ihren teilweise anonymen MitarbeiterInnen haben dabei als wissenschaftsexterne Instanzen zumeist verlässliche Ergebnisse produziert, die funktionierende wissenschaftliche Institutionen im Sinne der akademischen Selbstkontrolle schon selbst längst hätten vorgelegt haben müssen.

Von dieser Problematik noch einmal zu trennen ist das Problem vieler Studierender in den ersten Semestern, wie die Entwicklung eigener Argumentationen und Erkenntnisse einerseits von fremdem Wissen andererseits formal korrekt zu trennen ist. Die Alltagserfahrung einer MashUp- oder Remixkultur im World Wide Web lässt für Studierende diese Trennung noch ‚künstlicher’ erscheinen, was wir leider in (zu) vielen Hausarbeiten dokumentiert bekommen und tatsächlich ein großes Problem geworden ist. Dieser Punkt ist zugleich ein gutes Beispiel, das die Potenziale der digitalen Wissensdistribution zugleich auch bereits bestehende Probleme verschärfen.

7. Selbstverständlich thematisiere ich diese Potenziale und Probleme des digitalen Wissens in der wissenschaftlichen Arbeit auch in meinen Seminarsitzungen. In einem chronisch unterfinanzierten Universitätssystem, in dem einerseits immer mehr Studierende auf der Basis einer andererseits immer schlechteren Ausstattung zum Studienabschluss gebracht werden sollen, stoßen diese Bemühungen jedoch zwangsläufig an ihre grenzen. Gemeinsam mit meinen KollegInnen Prof. Dr. Rolf Parr und Dr. Corinna Schlicht von der Universität Duisburg-Essen habe ich daher zumindest einzelne Hinweisdateien für Studierende zu diesen Fragen bereitgestellt.

Das heißt: Der digitale Medienwandel wird auch weiterhin das wissenschaftliche Arbeiten und Schreiben ändern, wobei er Potenziale und Probleme mit sich bringt. In zwanzig Jahre, davon bin ich sehr überzeugt, wird der Prozess zur wissenschaftlichen Veröffentlichung anders aussehen als heute, Begriffe wie Kollaboration, Transparenz und Präsenz werden dann eine deutlich größere Rolle spielen. Im MA-Studiengang „Literatur und Medienpraxis” an der Universität Duisburg-Essen, in der „AG Potenziale digitaler Medien in der Wissenschaft” der Global Young Faculty III und an vielen anderen Stellen werden wir diese Prozesse auch wissenschaftlich begleiten. Mehr dazu in der nächsten Zeit an dieser Stelle…

Fußnote 1

Vgl. die Beiträge von Anja Lobenstein-Reichmann, Ramona Mechthilde Treinen und Herbert Uerlings sowie den Sammelband von Anita Awosusi: Herbert Uerlings/Iulia-Karin Patrut (Hg.): „Zigeuner” und Nation. Repräsentation, Inklusion, Exklusion. Frankfurt 2008, S. 589-629, 631-696; Anita Awosusi (Hg.): Stichwort: „Zigeuner”. Zur Stigmatisierung von Sinti und Roma in Lexika und Enzyklopädien. Heidelberg 1998.

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Kategorie: Dokumentationen und Medien | Tags: , , , , , , ,

About Thomas Ernst

Thomas Ernst is Professor of Modern German Literature at the University of Antwerp. He also works at the University of Amsterdam and holds a venia legendi on Media and Cultural Studies/German Studies at the University of Duisburg-Essen. His research focuses on the construction of identities, images of Germany and Europe, multilinguality and transcultural spaces in Austrian and German literature; on experimental and subversive Austrian and German literatures in the 20th and 21st century; and on the digital transformation of media and its cultural effects (literature and social media; intellectual property rights; digital publishing). His publications include books on “Popliteratur” (2001/2005), “Literatur und Subversion” (2013) and numerous papers that have been published in international magazines and book series with peer-review. At the moment, he is working on a monograph on literature and social media.

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