Nein, so hatte ich mir das nicht vorgestellt. Im letzten Jahr habe ich meinen Habilitationsprozess an der Universität Duisburg-Essen erfolgreich mit einer Schrift über Literatur und Literaturwissenschaft im Zeitalter der Sozialen Medien abgeschlossen. Ein Kapitel dieser Arbeit widmet sich der Frage, welche Potenziale die Sozialen Medien für die digitale Lehre und die Veröffentlichungspraxis der Germanistik offerieren und wie diese fruchtbar gemacht werden könnten. Es wurde mir klar, dass diese Potenziale zwar groß sind, in der Umsetzung aber auch viel daneben gehen kann und – vor allem – dass es noch viel auszuprobieren gäbe.
Deutschland: Debatte um digitale Lehre und ein #Nichtsemester
Aber so hatte ich mir das nicht vorgestellt: Dass wir nun in der „größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg“ (UN), so groß muss man wohl denken, gezwungen sein würden, unsere komplette Hochschullehre in kürzester Zeit auf ihre digitale Form umzustellen. Die Maßnahmen gegen die Verbreitung des Coronovirus sind zunächst einmal ein gesamtgesellschaftliches Problem und insbesondere für die Risikogruppen hochrelevant. Ein Effekt dieser wichtigen Maßnahmen ist für meine Kolleg*innen und mich allerdings, dass sie als struktureller Zwang nun eine nur auf Temporalität angelegte Disruption der Lehre auslösen werden.
Eine ‚digitale Revolution‘ lässt sich unter diesen Vorzeichen kaum sinnvoll umsetzen. In Deutschland gibt es daher, ausgehend von einem von den Kolleginnen Prof. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky (LMU München), Prof. Dr. Andrea Geier (Trier) und Prof. Dr. Ruth Mayer (Hannover) initiierten offenen Brief, eine Debatte, ob das Sommersemester 2020 nicht besser ein Nicht-Semester werden sollte. Der Brief weist berechtigterweise darauf hin, dass die Online-Lehre „eine besondere, eigene, voraussetzungsreiche Variante der Lehre“ ist und sehr „gründlich vorbereitet“ werden müsse, wofür die Zeit nun kaum reiche. Spezifische Probleme des deutschen Hochschulsystems – die Befristung der allermeisten Stellen, die hohen Lehrdeputate vieler Kolleg*innen – sowie die schwierigen ökonomischen und sozialen Situationen vieler Studierenden stünden jedoch dieser notwendigen gründlichen Vorbereitung im Wege. Die Forderung der Verfasserinnen, das Sommersemester vor diesem Hintergrund in ein besonders flexibles ‚Nicht-Semester‘ umzuwandeln, wurde innerhalb von drei Tagen von mehr als 1.300 Kolleg*innen erstunterzeichnet.
Belgien: Umstellung auf digitale Lehre im laufenden Semester
Als in Belgien Lehrender ist meine Situation allerdings eine andere, denn die Studienjahre sind anders strukturiert. Mich erwischten die Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronavirus-Verbreitung in einem laufenden Semester, denn hier starten die Lehrveranstaltungen schon in der zweiten Februarwoche. Während also in Deutschland noch darüber debattiert wird, ob und wann und wie die Lehre ab April oder Mai stattfinden wird, habe ich die Umstellung sozusagen bereits hinter mir.
Für mich war das besonders unglücklich, weil ich den Ruf nach Antwerpen erst zu diesem Studienjahr erhalten habe und gerade mit meinen ersten drei Lehrveranstaltungen begonnen war. Man muss sich in einem neuen akademischen System zurechtfinden, ein Gefühl für die Interessen und Nöte der belgischen Studierenden entwickeln und einzuschätzen lernen, welche Erwartungen man an die Leistungen der Studierenden im ersten, zweiten bzw. dritten Bachelorjahr oder dann im Masterstudium stellen darf. Als ich nach den ersten Seminaren anfing, einen besseren Einblick zu haben, griff die Universiteit Antwerpen – die in Person des Virologen Prof. Dr. Steven van Gucht und der Expertin für Infektionskrankheiten, Prof. Dr. Erika Vlieghe, auch den belgischen Diskurs über die Coronavirus-Bekämpfung mitbestimmt – zur Notbremse. Mit einer Email vom 18. März 2020 erklärte unser Rektor Prof. Dr. Herman Van Goethem als Konsequenz der Coronavirusverbreitungsbekämpfung die Lehre zur Digitallehre, mit Email vom 20. März 2020 auch das gesamte Semester als eines der digitalen Lehre (was allen in diesen Zeiten großer Unsicherheit zumindest eine hilfreiche Planungssicherheit gibt).
Was sind nun meine Erfahrungen aus diesen letzten Wochen? Zunächst ganz allgemein: Erstens ist nicht alles so schlimm, wie man es befürchtet. Zweitens gibt es große Potenziale im Digitalen, die man nun endlich einmal selbst ausprobieren kann. Drittens weiß man klarer, welche Bereiche auch durch das Digitale nicht zu ersetzen sind und sogar noch relevanter werden. Was heißt das konkret?
Erfahrungen und Tipps (1): Digitale Studieninhalte und Studierendenbetreuung
Im Gegensatz zu früher müssen wir uns klar machen, dass die Studierenden und Lehrenden eine andere Unsicherheit spüren und womöglich nur eingeschränkt oder temporär verfügbar sind. Es muss für uns alle erst einmal prioritär sein, dass wir die Zeit bis zur möglichen Impfung gesund überleben oder zumindest daran mitarbeiten können, dass möglichst viele Menschen sich nicht anstecken oder im Falle der Erkrankung überleben. Das heißt konkret, dass wir möglicherweise selbst erkranken; dass einzelne Studierende erkranken; dass Familienmitglieder oder Freund*innen von uns oder den Studierenden erkranken oder Symptome zeigen, was psychisch belastend sein kann; zudem entsteht für befristet arbeitende Kolleg*innen mit kleinem Einkommen sowie für Studierende, deren Nebenjobs wegfallen, eine enorme psychische Belastung. Diejenigen, die sich privat in der Pflege engagieren oder deren Kinder nicht in den Kindergarten oder die Schule gehen können, stehen vor einem enormen Alltagsstress. Daher erscheint mir sehr wichtig: Es kann helfen, die Lernziele zu reduzieren, und es ist in jedem Fall wichtig, wesentlich flexibler mit dem Seminarverlauf sowie dem individuellen Studienverlauf umgehen zu können.
Neben diesen aktuellen Herausforderungen gibt es andere, die die digitale Lehre aus dem Homeoffice allgemein betreffen. Wichtig werden die technischen Voraussetzungen: ein möglichst guter Rechner, eine möglichst stabile Internetverbindung, aber auch ein Raum, in den man sich zu Hause ungestört zurückziehen kann. Der Digitalunterricht privilegiert daher die reicheren Studierenden und ist gerade für die ärmeren Studierenden aus bildungsschwachen Hintergründen eine besondere Herausforderung. Die von Prof. Dr. Nicole Zillien (Gießen) schon früh konstatierte Gefahr der „Digitalen Ungleichheit“ kann hier wieder voll durchschlagen. Es ist daher wichtig, individuell für diese Differenzen der Ausstattung sensibel zu sein und nach Möglichkeit auch strukturelle Lösungen zu bedenken. Aus meiner Erfahrung ist es tatsächlich ein großer Unterschied, ob man zum Beispiel einer digitalen Präsentation einer guten Studentin folgt, die technisch optimal verläuft, oder einer wesentlich schwächeren Präsentation, die dann auch noch regelmäßig technische Aussetzer hat und wegen eines billigen Headsets von einem unangenehmen Grundrauschen begleitet wird.
Nach meinen bisherigen Erfahrungen können die formulierten Lernziele weitestgehend gleich bleiben – wobei es ratsam scheint, die quantitativen Anforderungen zu reduzieren, also zum Beispiel die Lektüreerwartungen oder die Länge von Hausarbeiten, und im Rahmen des Möglichen zu flexibilisieren (viel Gremienarbeit ist nötig, um diese Flexibilisierung zu verstehen und zu begleiten). Vor allem ändern sich der Lernweg und die Lernformen, und diese wiederum in unterschiedlicher Form für verschiedene Seminartypen. Beispielsweise können Lernvideos und individuelle Lektüren in Überblicksvorlesungen zum Beginn des Bachelorstudiums, in denen es vor allem um Wissensvermittlung geht, natürlich effektiv sein. Diese Formen sind am ehesten den MOOCs (massive open online courses) vergleichbar, die vor einigen Jahren sozusagen als Speerspitze der digitalen Lehre insbesondere für Bildungspolitiker*innen ein Versprechen auf günstige Digitallehre enthielten: Man nehme einmal eine Veranstaltung auf, präsentiere Studierenden das Video mit Übungsfragen und könne sich perspektivisch viele Präsenzstunden sparen, so die Hoffnung.
Was die Hochschuldidaktik inzwischen weiß, bestätigt sich auch bei meinen Bachelor-Veranstaltungen „Deutsche Literaturgeschichte 1“ und „Deutsche Kulturgeschichte“: Wenn es gut läuft, stellen die Studierenden gute Fragen zum Stoff und fordern sie eine Interaktion zu ihren Fragen ein. Daher erfolgt die Lehre im Livevideo, die Studierenden können Zwischenfragen stellen oder eigene Kommentare anbieten. Darüber hinaus gibt es auch ein Seminarwiki (oder wahlweise ein Forum), in dem die Studierenden Fragen oder Beobachtungen zu ihren Lektüren aufschreiben und reflektieren können und auf die ich dann in der nächsten Sitzung eingehe. Die Beobachtung und Kuratierung dieser interaktiv angelegten Portale geht jedoch deutlich über den Zeitaufwand für ‚normale Seminare‘ hinaus, in denen man vor Ort und informell viele Fragen beantworten und Gespräche führen kann.
Überhaupt verschiebt sich das Verhältnis von (digitaler) Präsenzlehre, studentischen Aktivitäten auf interaktiven Seminarplattformen und direkter Studierendenbetreuung: die eigentliche Lehre steht weniger im Mittelpunkt, die Interaktivität und die direkte Betreuung werden relevanter – und nur dann wird digitale Lehre als solche auch wirklich produktiv. In meinem Masterseminar „Literatur und Politik“, das im Verhältnis wenige, jedoch sehr gute und motivierte Studierende besuchen, kann ich die Hausarbeitsthemenentwicklungsprozesse durch die nun interaktive Seminarstruktur sozusagen in Echtzeit verfolgen. Anders gesagt: In dem Maße, in dem sich einige Studierende angesichts der Quarantänezeit noch einmal ganz anders mit dem Lehrstoff befassen können, erhöht sich auch der Anspruch an die Betreuung. Frühe und klare Absprachen zur Kommunikation und zu Gesprächs(zeit)räumen erscheinen daher wichtig. By the way: Für kleinere Forschungsgruppen oder Fachteams, bei denen jetzt notgedrungen der Small Talk des Alltags wegfällt, kann ein regelmäßiges digitales Jour fixe anregend sein, bei dem es vielleicht auch nur um einen privaten Austausch geht.
Erfahrungen und Tipps (2): Tools des E-Learning und die nachhaltige Digitalisierung der Fach-Communities
Wer suggeriert, dass es für die Digitallehre die eine gute Lösung gäbe, geht völlig an der Realität vorbei. Für jeden Seminartypus und Seminarinhalt muss prinzipiell ein eigenes Programm durchdacht werden, das sich auf das Lernziel, die Studierendengruppe, deren Vorkenntnisse und Fertigkeiten sowie die jeweiligen digitalen Möglichkeiten bezieht. Das ist bei einem solch disruptiven Vorgehen im Krisenmodus natürlich unmöglich, weshalb zumindest zwei Punkte wichtig sind: Erstens hilft es sehr, die Studierende immer wieder einzubeziehen und zum Feedback zum Lernprozess aufzufordern. Sie machen in unterschiedlichen Seminaren verschiedene Erfahrungen und auf diese Weise lässt sich interaktiv nachtarieren. Hier wird digitale Vernetzung einmal wirklich produktiv.
Zweitens hat es sich als hilfreich erwiesen, wenn man den Studierenden – gerade in der unsicheren Situation unserer gegenwärtigen Krise – eine überschaubare Zahl an Tools nahelegt, die dann kontinuierlich genutzt werden. An der Universität Antwerpen bewegen wir uns zu großen Teilen auf der Lernplattform Blackboard, die einen eigenen digitalen Kursraum mit der Option, Arbeitsgruppen einzurichten, sowie weitere Tools wie Wiki, Forum, Blog etc. beinhaltet. Zu meiner Freude läuft diese Plattform auch ziemlich stabil; von anderen Universitäten oder auch beim digitalen Schulunterricht der Kinder habe ich mitbekommen, dass dies leider nicht immer gelingt, gerade zu bestimmten Stoßzeiten. Auch darauf sollte man sich einstellen.
Zur Beschränkung der Tools: Die Kommunikation mit Kolleg*innen habe ich in den letzten Tagen schon über Blackboard Collaborate ultra, Skype, WhatsApp, Zoom und Microsoft Team geführt; als kollaborative Schreibplattform haben wir Ideen über ein GoogleDoc ausgetauscht. Ich würde mir wünschen, dass sich auch hier zunehmend Standards etablieren und dabei vor allem die Debatte über die notwendige Datensouveränität der Nutzer*innen endlich auch breit und sinnvoll geführt wird. Es ist eigentlich beschämend, dass der Wissenschaftsbetrieb zu weiten Teilen noch immer auf die Plattform eines kommerziellen Anbieters zurückgreift, dessen überaus erfolgreiches Geschäftsmodell gerade auf intransparenten Algorithmen und einer problematischen Datenpolitik beruht.
Ein positiver Effekt dieser Krise könnte sein, dass die verschiedenen Disziplinen ihre digitalen Lernformen durchdenken und vor allem für das E-Learning hilfreiche Ressourcen bündeln. In der Kunstgeschichte hat sich eine solche Gruppe bereits herausgebildet, auf Initiative von PD Dr. Claudius Sittig (Rostock) gibt es eine ähnliche Initiative für die Germanistik. Wenn es gelingt, in solchen spontanen Arbeitskreisen kurzfristig hilfreiche Impulse für die Einrichtung der digitalen Lehre in den jeweiligen Disziplinen zu geben, und das gemeinsam entwickelte Erfahrungswissen auch nachhaltig zu bündeln, wäre uns allen geholfen. Mein Eindruck ist aber, bei allem Enthusiasmus der Beteiligten, auch hier, dass der Respekt vor der Krise und der Bewältigung des je individuellen Alltags das Engagement hemmen. Wir müssen uns das merken, wenn wir in den nächsten Monaten mit unseren Studierenden umgehen.
Erfahrungen und Tipps (3): Open Access und die digitale Bibliothek
Schließlich liegt mir noch ein Punkt besonders am Herzen. Ich habe mich in den vergangenen Jahren für das digitale Publizieren in der Wissenschaft und insbesondere für den Gedanken des Open Access engagiert. In dieser Krise sehen wir, wie wichtig es wäre, umfassend diese Potenziale zu nutzen, denn viele Texte stehen unseren Studierenden derzeit nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung (an manchen Unis sollen die Studierenden Hausarbeiten verfassen, ohne die Bibliotheken betreten zu dürfen). In der Praxis kann es darauf hinauslaufen, dass das Literaturverzeichnis in ‚digital verfügbare Primärliteratur‘, ‚digital verfügbare Sekundärliteratur‘ und ‚interessant klingende, aber digital leider nicht verfügbare Literatur‘ unterteilt werden muss. Das sollte jedoch so schnell wie möglich kein Problem mehr sein und ist ein Aufruf an alle Wissenschaftler*innen, spätestens aus dieser Erfahrung heraus nachhaltig darauf zu drängen, alle Veröffentlichungen auch in der Open Access-Variante anzubieten. Von manchen Universitätsbibliotheken weiß ich, dass derzeit extra Ressourcen genutzt werden, um manche Bücher endlich auch digital verfügbar zu machen – gut so!
Nichts von dem, was ich hier geschrieben habe, ist wirklich neu. Vieles davon trifft auch schon auf die Präsenzlehre zu. Ich hoffe aber, dass die Möglichkeiten, Probleme und vor allem Verschiebungen, die ich in den letzten beiden Wochen mit der spontanen Komplettumstellung auf die digitale Lehre erfahren habe, deutlich geworden sind. Diesen Text werde ich immer mal wieder aktualisieren, für Hinweise bin ich daher dankbar.
Viel wichtiger bleibt aber: Bleiben Sie gesund!
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